Berichte

„ Eltern sind das A und O ”



Literaturkritiker Hellmuth Karasek im Sonntagsjournal über die Bildung in Deutschland

Bremerhaven. Zur Verleihung des Gründerpreises Bremerhaven wird Prof. Dr. Hellmuth Karasek, Journalist und Literaturkritiker, einen Vortrag halten. Das Sonntagsjournal sprach mit ihm über die Bildung in Deutschland. Von Ingrid Zöllner

SJ: Sie halten zur Vergabe des Gründerpreises Bremerhaven einen Vortrag. Was wird der Inhalt sein?

Karasek: Ich werde über das Buch, seine Entwicklung, seine wirtschaftliche Bedeutung und seine Gefährdung sprechen.

SJ: Das Thema Bildungspolitik steht momentan überall ganz oben. Was meinen Sie, muss passieren?

Karasek: Man muss die Wege der Bildung diskutieren. Wir haben zurzeit eine Diskussion über die beste Schulform, die zur Bildung führt. Das wäre der erste Schritt. Da gibt es zwei Schulen. Die eine Schule möchte die Kinder möglichst lange zusammenhalten, um das soziale Gefüge zwischen den Schichten enger zu knüpfen. Die andere Schule möchte die Bildung relativ früh trennen, weil sie der Ansicht ist, dass sonst die langsamen Marschierer die anderen, die sich  sozusagen zur Elite entwickeln sollen, aufhalten würden.

SJ: Sie meinen den Schulabschluss nach zwölf und dreizehn Jahren?

Karasek: Nein, sondern wie lange der Gesamtweg gegangen wird. Dass die Gemüter erhitzt sind über die Abschlüsse nach zwölf oder dreizehn Jahren, hängt damit zusammen, dass der Lehrstoff neu gegliedert werden müsste. Die Eltern und Schüler haben in der Übergangszeit das Gefühl, es wird ihnen zuviel zugemutet und die spielerischen Ziele des Lebens oder Möglichkeiten der Entwicklung würden damit behindert und zerstört.

Wo muss Ihrer Meinung nach Bildung ansetzen?

Karasek: Ein großes Problem der Bildung ist, dass sie ihre Hauptquelle früher im Elternhaus hatte. Die Eltern sind schon allein durch ihre unausgesprochene Vorbild- oder Abschreckungsfunktion für die Bildung unendlich wichtig. Kinder imitieren nicht nur. Sie können das ja an jedem Kind merken,. Die imitieren nicht nur den Dialekt, sondern sie kopieren unbewusst die Erwachsenen zuhause, die sie bewundern und lieben.

Sj: Also stehen die Eltern in der Verantwortung?

Karasek: Das ist zwar problematisch, aber die Eltern sind das A und O der Bildung. Da wird eine entscheidende Vorauswahl getroffen.  In manchen bürgerlichen Haushalten gehört Instrumentalunterricht dazu. Manche Eltern machen sich  abends die Muße, ihren Kindern etwas vorzulesen. Das ist alles in der frühkindlichen und der häuslichen Phase da. Wo das nicht gegeben ist, muss der Kindergarten helfend eingreifen. Ein weiteres wichtiges Moment ist, die Nationalsprache auch in die Schichten verbreitet, wo es sehr beklagenswert aussieht.

SJ: Aber Dinge wie Instrumentenunterricht sind meist den Schichten vorbehalten, die sich so etwas leisten können.

Karasek: Das ist so. Die Welt ist so eingerichtet. Der Staat kann nur möglichst viel Ausgleich und Subvention zur Seite stellen, für die, die das allein nicht schaffen. Das ist indes ein Idealzustand. Die Erhöhung des Kindergeldes ist ein Schritt in die richtige Richtung.

SJ: Der Staat muss also mit eingreifen?

Karasek: Ja. Das ist eine seiner wichtigen Aufgaben. Immerhin hat der Staat die Schulpflicht erzwungen. Die Eltern wollten ihre Kinder im Handwerkbetrieb oder der Landwirtschaft als Mitarbeiter haben. Die Kinder waren ja, um es hart auszudrücken, die ersten Sklaven in der Familienordnung der Geschichte.

SJ: Wird denn deutsche Sprache vernachlässigt?

Karasek: Ich denke nicht. Es gibt immer, diese Angst, dass durch Fernsehen und die Bilderflut die Sprache zurückgedrängt wird. Aber alle elektronischen Medien setzen Bildung voraus. Es ist ein großer Fortschritt. Wir sind den Zeiten des Analphabetismus noch gar nicht so lange entsprungen. Der Analphabetismus in Deutschland war bis ins 18. Jahrhundert lange verbreitet.

SJ: Wie weit wären Sie gekommen, wenn Sie Studiengebühren hätten zahlen müssen?

Karasek: Ich musste Gebühren zahlen, hatte aber ein Stipendium. Ich war in einer Sondersituation; ich floh direkt nach dem Abitur allein aus der DDR. Mein Studium habe ich mir durch eine Art Bafög finanziert. Damals gab es Leistungsprüfungen an jedem Semesterende, die man absolvieren musste Flüchtlinge aus der DDR hatten es leicht, ein Stipendium zu bekommen, wenn sie bereit waren, Fleißprüfungen abzulegen. Die letzten Semester finanzierte ich mir mit Darlehen.

SJ: Welche Zukunft sehen Sie für die Geisteswissenschaften in unserer ökonomisch denkenden Gesellschaft?

Karasek: Ich denke, dass Geisteswissenschaften eine Zukunft haben müssen. Weil Geisteswissenschaften in einer globalisierten Welt allein für den Kontakt unter verschiedenen Kulturherkünften sorgen, die Verständigung fördern und den Austausch der dazuwischen stattfinden muss.

SJ: Anfang Oktober war Buchmesse in Frankfurt. Inzwischen gibt es E-Books. Wird weniger gelesen?

Karasek: Was heißt eigentlich Buch? Es gibt Schund, gefährliche Inhalte wie „Hitler mein Kampf,“ um ein besonders abschreckendes Beispiel zu nennen – gewaltverherrlichende Literatur. Buch ist nicht gleich Buch. Ich denke, man müsste – und das ist eine Aufgabe des Elternhauses und der Schule – die Kinder zum richtigen Lesen führen. Ich glaube, dass mehr gelesen wird als früher. Das können Sie an den Harry-Potter-Auflagen sehen.

SJ: Teilen Sie mit Ihrem Kollegen Marcel Reich-Ranicki vom Literarischen Quartett die Ansicht, dass Fernsehen "Blödsinn" ist?

Karasek: Das hat er so nicht gesagt. Er sagte, dass das Fernsehprogramm, dass er in der Preisverleihungsveranstaltung präsentiert bekommen hat, ihm als Blödsinn erschien. Er wollte damit ausdrücken, dass ihm diese endlose Veranstaltung, wo er mit Leuten wie Atze Schröder konfrontiert wurde oder mit Köchen, die sich Laudatioschmarrn um die Löffel schmierten. Der Fehler dabei ist, das Fernsehen sehr pauschal Preise verleiht. Würde man ein Buchpreis fürs Lebenswerk bekommen  und es gäbe eine entsprechende Veranstaltung, wo Diätratgeber, Krimis, esoterische Literatur, Lebenshilfe, historische Romane, Kinderbücher vertreten wären, dann hätte mancher den Eindruck, er ist im falschen Film und auf einer blödsinnigen Veranstaltung.

SJ: Würden Sie gerne wieder ins Fernsehen gehen, vielleicht mit Marcel Reich-Ranicki?

Karasek: Ich hätte überhaupt nichts dagegen. Aber man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass wir beide schon etwas älter sind und pro Sendung des Literarischen Quartetts 20 Bücher lesen mussten. Das ist eine horrende Arbeit. Ich weiß nicht, ob ich dafür heute noch in der Lage wäre.