Berichte

Beim Reaktorunglück wird evakuiert



Das Katastrophenschutzzentrum in Dietzenbach steuert Einsätze von Feuerwehr und Rettungsdienst für den Kreis Offenbach
Von Ingrid Zöllner


Dietzenbach. Das Reaktorunglück in Tschernobyl hat Spuren hinterlassen: Mit der radioaktiven Wolke kamen gefährliche Stoffe mit dem Boden in Kontakt, und der Glaube an die „saubere“ Energie war erschüttert. 25 Jahre später hat der Super-Gau in Fukushima die Debatte um Kernkraftwerke in Deutschland wieder angeheizt – einige wurden sogar vorübergehend abgeschaltet. Derzeit sieht es so aus, als würden Biblis A und B nicht mehr oder höchstens als „Kaltreserve“ im Falle des Blocks B ans Netz gehen. Doch die Gefahr einer Katastrophe besteht so lange, bis ein Kernkraftwerk ganz zurückgebaut ist.

Ob nun ein Unfall im Atommeiler Biblis, ein Chemieunfall, ein großer Brand oder ein schweres Unglück auf der Autobahn im Kreis Offenbach passiert - in diesen Fällen wird das Katastrophenschutzzentrum in Dietzenbach aktiv. Von dort aus werden Abläufe geplant und Einsatzkräfte alarmiert. Wer im Kreis die 112 wählt, landet automatisch in der Rettungsdienststelle. Muss die Feuerwehr ausrücken oder wird ein Notarzt benötigt? Die erste Entscheidung wird dort getroffen. Der Katastrophenschutz gehört zur Feuerwehr und ist Landrat Oliver Quilling unterstellt, denn die Wehr kommt bei Einsätzen meist in Kontakt mit Chemikalien und ist zudem die größte Hilfsorganisation in Deutschland. Regelmäßig werden die Helfer zu Gefahrstoffen geschult, Einsätze werden geübt. In dem Gesundheits- und Gefahrenabwehrzentrum, wie der ganze Komplex heißt, befinden sich die Leitstelle und der Rettungsdienst.

Seit dem Unfall in Tschernobyl werden einmal im Jahr mehr als 30 Orte im Kreis auf Radioaktivität hin überprüft. Werner Merget ist Kreisbrandmeister für Gefahrgut und weiß, dass es natürliche Radioaktivität gibt: „Die steckt im Boden oder auch in Lebensmitteln wie Weizen oder Kartoffeln.“ Mit einem so genannten ABCFahrzeug werden die Messpunkte angefahren. Das ABC steht für atomar, biologisch und chemisch. Beim Messen gibt es unterschiedliche Verfahren. Bei den Kontrollpunkten nehmen Mitarbeiter Proben von Erde, Sand, Gras, Wasser und von Milch. „In den Jahren haben wir so eine Reihe von Messwerten erstellt. Experten können daran erkennen, ob es zu Veränderungen kommt“, erklärt Merget. Analysiert werden die Proben in Dietzenbach. Bei den Messstationen handelt es sich um Orte wie Parks oder Grünflächen. „Wenn da ein ganzer Wald steht, verfälscht das die Ergebnisse. Die Bäume würden viel vom Boden abhalten“, erläutert der 53-Jährige.

In den ABC-Autos befindet sich ein Container mit Messgeräten, von denen Schläuche zu so genannten Spürdüsen außerhalb des Fahrzeugs führen. Diese Düsen saugen Luft an, sekündlich werden Werte in den Computer eingespeist. Zum Einsatz kommen sie bei größeren Gebieten. „Der Computer stellt uns auf der Karte die Route dar, die abgefahren wird und gibt entsprechend der Messung die jeweiligen Farben an. Jede Farbe steht für einen bestimmten Bereich von Radioaktivität“, berichtet der Kreisbrandmeister. Damit kann er außerdem Kampfstoffe aufspüren, die bei der Bundeswehr im Einsatz sind.

Kommt es etwa zu einem größeren Chemieunfall, wird von der Rettungsleitstelle das Messleitfahrzeug alarmiert, in dem die Fachberater für Chemie und Biologie mitfahren. Die Vorhut fährt bis kurz vor die Unfallstelle und ermittelt auf dem Weg dorthin erste Daten. Anschließend werden die vier ABC-Fahrzeuge aus dem Kreis rund um die Unfallstelle geordert, um Messungen in den umliegenden Gebieten aufzunehmen.

Je nach Art und Weise des Chemieunfalls wissen die Experten, um welchen ausgetretenen Stoff es sich handelt. Um diesen und dessen Konzentration in der Luft festzustellen, benutzen die Katastrophenschützer Prüfröhrchen. Mit einer Pumpe wird Luft durch ein Glasröhrchen gesaugt, das nicht größer ist als ein Kugelschreiber. So lassen sich Stoffe nachweisen oder eben nicht. Je nach Größe des Unfalles werden entweder die Röhrchen oder die Saugdüsen eingesetzt. Die Daten werden permanent an das Messleitfahrzeug übermittelt, so dass die Experten über ein weiteres Vorgehen entscheiden können, etwa die Warnung der Bevölkerung. Kommt es zu einer Kontamination (Verunreinigung) von Menschen, so können diese in einem aufblasbaren Zelt duschen und die Kleidung tauschen.



Sollte es zu einem Reaktorunglück in Biblis kommen, wo Menschen evakuiert werden müssen, dient Dietzenbach neben Heusenstamm und Neu-Isenburg – je nach Windrichtung – als Auffangstation für die Betroffenen. Der Katastrophenschutz kümmert sich dann um die Logistik, lässt in den Turnhallen Feldbetten aufstellen und sorgt dafür, dass die medizinische Versorgung und die Betreuung reibungslos funktionieren. Bevor Evakuierte dorthin kommen, müssten sie in Klein-Krotzenburg durch eine Schleuse, wo die Kleidung gewechselt und – falls nötig – die Person dekontaminiert wird. Die Evakuierung erfolgt laut Günther Fenchel, Pressesprecher des Kreisfeuerwehrverbandes, auf freiwilliger Basis. „Für die Evakuierung vor Ort ist der Kreis Bergstraße verantwortlich. Aber jeder Anwohner kann sich frei bewegen. Manche fahren sicher lieber selbst weit weg, als in einer Turnhalle auf einem Feldbett für eine unbestimmte Zeit zu schlafen.“

Nicht nur Unfälle oder Brände rufen den Katastrophenschutz auf den Plan. Mit dem Klimawandel kommt es zudem vermehrt zu Unwettern. Auch in Deutschland ist dieses Phänomen spürbar, wie Kreisbrandinspektor Ralf Ackermann feststellt. „Es gibt zunehmend extremere Wetterlagen; vom Starkregen, der alles unter Wasser setzt, bis zur wochenlangen Dürre, so dass wir aufmerksamer wegen der Waldbrandgefahr sein müssen.“ In der Rettungsleitstelle zeigt ein Monitor konstant die Vorhersage des Deutschen Wetterdienstes in Offenbach an. Eine Deutschlandkarte gibt Auskunft über Temperatur und Wetterlage. Jede kleine Wolke wird dort angezeigt. Auf dem Dietzenbacher Gebäude werden permanent Windstärke, Windrichtung und die Temperatur gemessen.

Der Katastrophenschutz kommt zum Einsatz, wenn mehrere Kommunen im Kreis betroffen sind oder das Ausmaß eines Unglücks so groß ist, dass die örtlichen Einheiten wie Feuerwehr nicht mehr ausreichen. Das kann bei einem Flugzeugabsturz oder einer Überschwemmung der Fall sein. Auch ein ICEUnfall wie in Eschede würde einen Einsatz auslösen. „Unser Ziel ist es, die größere Logistik zu übernehmen, die man örtlich nicht mehr handhaben kann“, erklärt Ackermann. Im kleinen oder großen Stabsraum plant er mit seinen Kollegen den Einsatz. In Letzterem sitzt jeder an einem PC mit Videoübertragung; an der Wand hängt eine große Karte des Kreises Offenbach, immerhin eine Fläche von 356 Quadratkilometern mit rund 340 000 Einwohnern. Im höchsten Notfall wird das Hessische Innenministerium zugeschaltet.

Im Keller befinden sich Akten mit Gebäude- und Notfallplänen, die zudem elektronisch gespeichert sind. Allein 500 Objekte sind größere Bauten wie Firmen, Einkaufscenter und Seniorenheime. Ab einer bestimmten Größe gibt es in den Gebäuden automatische Brandmeldeanlagen, die mit der Leitstelle vernetzt sind.

Geht ein Ruf in der Rettungsleitstelle ein, können die Einsatzsachbearbeiter Martin Zinß und Michael Heilmann in einer Abfragemaske im PC Art und Weise des Notrufes festhalten. Handelt es sich um einen Brand, gibt es mehrere Optionen wie zum Beispiel Dachstuhl- oder Kesselwagenbrand. Die Adresse gibt Aufschluss darüber, welche Rettungstrupps in der Nähe verfügbar sind.

Handelt es sich zum Beispiel um einen Kesselwagenbrand, bei dem ein Gastank auf Schienen brennt und Gefahr im Verzug ist, gibt der PC dem Einsatzsachbearbeiter die Auswahl, welche Einheiten von Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastrophenschutz alarmiert werden müssen. „Das basiert auf Erfahrungswerten, die gespeichert wurden“, erklärt Leitstellenleiter Joachim Kügler.

Wenn er den Button „Alarmieren“ am PC bestätigt, ist die Rettungskette nicht mehr aufzuhalten. Alle für den vorgegebenen Einsatz empfohlenen Einheiten rücken aus. Übrigens: Im Gegensatz zur Stadt Offenbach, die über eine Berufsfeuerwehr verfügt, arbeiten bei den Freiwilligen Feuerwehren im Kreis nur ehrenamtliche Helfer, die im Notfall ihr Leben für ihre Mitbürger riskieren.



Erschienen in der Offenbach-Post am 14.6.2011