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„Das schönere Muhen einer Kuh“



Neuenwalde. Ein tiefes, lautes Röhren erfüllt die Praxisräume. Wolfgang Sander nimmt das Horn vom Mund. „Ich bin etwas erkältet, aber bis Freitag muss es sitzen“, sagt er. Denn da ist die 12. Deutsche Meisterschaft der Hirschrufer. Und der Allgemeinmediziner aus Neuenwalde hofft auf eine gute Platzierung. Von Ingrid Zöllner

Die Hoffnung ist nicht unberechtigt. 1999 nahm er erstmals bei einer Meisterschaft der „Pferd und Jagd“ in Hannover teil und belegte dort den sechsten Platz. 2001 fuhr er mit einem Bekannten nach Dortmund zur Messe „Jagd und Hund“ und – wurde Erster und deutscher Meister. „Ein Jahr später habe ich den Titel sogar noch einmal verteidigen können“, erinnert er sich. Bis Freitag hofft er, dass er seine Erkältung los wird. Mit ihm sind fünf Teilnehmer gemeldet.

Seit 1972 ist Sander als Jäger aktiv. „Im Laufe der Zeit lernt man verschiedene Lockmethoden. Die Krönung aller Jagden ist es, einen Rothirschen mit einem Rivalenruf anzulocken, zu sehen und ihn gegebenenfalls erlegen zu können“, erklärt der 54-Jährige. Das Röhren hat ihn so fasziniert, dass er 1975 angefangen hat, seine Stimme zu modellieren. „Das Hirschröhren ist das schönere Muhen einer Kuh.“

Keine Ulk-Veranstaltung

An solchen Meisterschaften nehmen etwa 15 Personen teil. Und es ist keinesfalls eine Ulk-Veranstaltung. „Die Aufgabe ist es, möglichst naturgetreu die Stimmung des Hirsches zu interpretieren“, sagt Sander. Teilnehmer sind nur Männer. Das aus einem bestimmten Grund: „Frauen haben ein kleineres Lungenvolumen und schaffen auch die Tiefe nicht. Eine tiefe Stimme ist von Vorteil“, sagt er.

Das Röhren selbst geht nicht ohne Hilfsmittel. Sander benutzt dazu ein Naturhorn. Eines ist von einem Watussi-Rind, ein anderes von einem Rind aus der ungarischen Tiefebene. Dafür gibt es jedoch kein Geschäft. „Das eine habe ich auf einem Flohmarkt entdeckt und das andere auf einem Messestand“, sagt er. Nicht mit jedem Horn röhrt es sich gleich gut. Damit es das Röhren aus der Kehle gut verstärkt, modelliert sich der passionierte Jäger das Horn mit Schleifpapier zurecht. Alternative Hilfsmittel zum Röhren sind Ochsenhörner, Hörner aus Kunststoff oder das Gehäuse der Tritonschnecke.

In drei Disziplinen müssen die Teilnehmer ihr Können unter Beweis stellen: ein alter Hirsch, der mit einigen Stücken Kahlwild abseits des Rudels steht; ein junger, suchender Hirsch und ein Rufduell zweier konkurrierender Hirsche.

Sein Vater steckte Sander mit der Jagdleidenschaft an. Er war Jäger und züchtete Jagdhunde. Einen Hund hat Sander natürlich. Doch Sina, eine Magyar-Vizsla-Hündin, ist erst ein halbes Jahr alt. „Sie muss erst angelernt werden, bevor sie mit in den Wald darf“, sagt der 54-Jährige. „Der Hund stöbert auf und apportiert“, erklärt Sander, der vor 20 Jahren nach Neuenwalde kam. Aufgewachsen ist er in Gütersloh in Nordrhein-Westfalen. Mit etwa 16 Jahren wusste Sander, dass er Arzt werden möchte. „Ich habe erst eine Ausbildung im medizinischen Bereich gemacht, weil mein Abischnitt nicht so gut war. Mit 26 Jahren habe ich in Münster Medizin studiert.“

Seinen 13 Jahre alten Sohn Sone hat er mit seiner Leidenschaft zum Röhren angesteckt. Er hat schon an einem Wettbewerb teilgenommen. Wenn der 54-Jährige auf die Jagd gehen will, fährt er in die Lüneburger Heide. „Auf Jagd gehen heißt aber nicht, dass immer geschossen wird“, betont Sander. „Ich genieße die Natur. Das ist für mich der Ausgleich zum anstrengenden Arztberuf.“

Das Beobachten der Tiere bei Schnee und Vollmond, Sonnenauf- und -untergänge, ein lauer Frühlingsabend auf dem Hochsitz – das sind Momente, in denen der Arzt für sich ist. „In meinem Beruf muss ich viel zuhören und reden. Im Wald kann ich mich entspannen und meine Gedanken schweifen lassen“, sagt Sanders.

Erschienen in der Nordsee-Zeitung am 03.02.10