Berichte

Notfall: Pony an Möhre fast erstickt



Unterwegs mit Landtierarzt Dr. Georg Bäumer

Beverstedt. Der schwarze Hannoveranerwallach trabt im Longierzirkel. Zwischendurch keilt er aus und fängt an zu bocken. „Genug, ich möchte ihn noch auf harten Untergrund laufen sehen“, ruft Dr. Georg Bäumer. Das Mädchen führt das Pferd auf den Hof und läuft neben dem Rappen her, bis er anfängt zu traben. Der Landtierarzt prüft, ob das Pferd taktrein läuft. Es zieht die linke Hinterhand ein wenig nach. Jetzt liegt es an Bäumer, die Ursache herauszufinden. Von Ingrid Zöllner

Sein Spezialgebiet: Orthopädie. „Kleintiere machen in der Praxis 20 Prozent aus. Der Rest sind Pferde“, berichtet der 47-Jährige, der seit vier Jahren in Beverstedt lebt. Morgens um 8 Uhr bespricht er sich mit seinem Assistenten Lars Weber, was vorgefallen ist und welches Tier mit welchem Medikament behandelt wurde. „Denkst du daran, heute bei dem einen Pferd die Zähne abzuraspeln? Ich muss gleich auf den ersten Termin“, erinnert Bäumer seinen Kollegen. Mit ihm teilt er sich die Nacht- und Wochenenddienste.

Der Landtierarzt läuft zu seinem Mercedes Vanio, der auf dem Hof vor der Praxis steht. In den Kofferraum hat er einen Schrank einbauen lassen, in dem sich Medikamente, Spritzen und Verbandsmaterialien befinden; ein Kühlschrank für die Impfungen sowie das digitale Röntgengerät mit Laptop und Kabeln. „Jeden morgen wird der Medikamentenbestand überprüft, was verbraucht wurde und wird aufgefüllt“, berichtet Bäumer, der im Tecklenburger Land aufgewachsen und Sohn eines Landwirtes ist.

Bäumer betreut Patienten im Umkreis von 30 bis 35 Kilometern. „Montags ist am meisten los. Da sind zwölf Termine an der Tagesordnung. Meistens kleinere Sachen wie Impfungen. Operationen wie Kastrationen stehen mittwochs an“, erläutert er.


Kein Achtstundentag


Tierarzt sei kein familienfreundlicher Beruf. „Es gibt keinen Achtstundentag. Notfälle kommen oft am Wochenende oder nachts“, betont der Vater zweier Kinder. Für Bäumer, der sich im Jahr 2000 mit einer Praxis selbstständig gemacht hatte, überwiegen jedoch die positiven Erlebnisse. „Ich wurde einmal an Weihnachten zur komplizierten Schafgeburt gerufen. Das Tier hat Drillinge bekommen, und es ist alles glatt gelaufen. Danach haben wir alle im Stall mit Glühwein angestoßen“, erinnert er sich.

Rahden heißt das erste Ziel. Dort wird er schon vom Besitzer erwartet, der die Equidenpässe bereithält, in denen Abstammung und Impfungen eingetragen werden. Sechs Pferde erhalten innerhalb weniger Minuten ihre Spritze. Bei einem Hannoveranerwallach ist eine längere Untersuchung nötig. Der Sechsjährige wurde vor vier Monaten wegen einer Osteochondrosis dissecans (OCD) am Kniegelenk operiert. Bei dieser Krankheit, die bei jungen Pferden in der Entwicklungsphase entsteht, löst sich ein Knorpelstück am Gelenk vom Knochen ab. Ist es abgetrennt, wird der so genannte Chip in einer minimal invasiven Operation herausgeholt. Nun lahmt der Wallach.

Lahmheit nach Operation

Der Tierarzt tastet das linke Hinterbein ab, lässt das Tier im Longierzirkel und auf harten Untergrund im Trab vorführen. Der Verdacht, dass die Lahmheit mit der Operation zu tun hat, verstärkt sich nach einer Beugeprobe. Bäumer holt sein digitales Röntgengerät. Innerhalb von Sekunden sieht er die Bilder auf dem Laptop. „Früher hat man zehn Aufnahmen gebraucht, um eine scharfe zu haben“, erinnert er sich. Auf dem Bild stellt der Tierarzt fest, dass die Kuhle im Knochen noch zu sehen ist. Er spritzt ins Gelenk ein Lokalanästhetikum. Zehn Minuten warten, dann soll der Wallach noch mal vorgeführt werden. Es hat sich gebessert, was heißt, dass der Schmerz daher kommt. Das bedeutet mindestens einen Monat Pause und nur Schritt.

Nächste Station: Garlstedt. Dort wartet Hannoveraner-Fuchs mit Rückenproblemen. Der Landtierarzt lässt sich immer die Vorgeschichte erzählen, um sich ein Bild machen zu können. Bei bestimmten Bewegungen auf dem Rücken, fängt das Pferd an zu buckeln. Nach dem Abtasten kommt das Röntgengerät zum Einsatz. Einer der Dornfortsätze ist angebrochen. „Der Bruch ist mindestens vier Wochen alt“, schätzt der 47-Jährige. Es gibt Schmerzmittel, Entzündungshemmer und eine Pausenverordnung. Zwischendrin klingelt wieder das Handy. „Am Tag sind das rund 15 Anrufe“, schätzt Bäumer, der oft pro Tag mehr als 200 Kilometer fährt.

„Landtierarzt ist trotz der Arbeitszeiten mein Traumberuf, weil ich während der Fahrt die Landschaft genieße. Besonders schön sind Sonnenaufgänge nach einem Einsatz in der Nacht“, sagt er und biegt nach rund 30 Minuten Fahrt auf einen Hof in Debstedt ein. Dort steht ein Oldenburger, der sich steif bewegt und lahmt. „Er ist recht lang“, fällt Bäumer auf. Die Röntgenbilder zeigen, dass der Wallach eine Fraktur im Hufbein hat. „Das müsste operiert werden“, gibt er zu bedenken. 1500 Euro oder mehr würde der Eingriff kosten. „Passieren kann aber momentan nichts, der Chip sitzt fest und kann nicht verrutschen.“ Geritten werden darf das Pferd; bei Anzeichen von Lahmheit oder Schmerzen ist aber Ruhe angesagt. Bäumer hat zwar in seiner Praxis OP-Raum, Narkosebox mit Gummimatten und Einstellboxen, doch da es sich um einen komplizierten Eingriff handelt, müsste dieser in einer Fachklinik vorgenommen werden.

In Schwanewede steht ein sechs Monate altes Fohlen, das eigentlich galoppieren sollte wie ein Hase und jetzt lahmt. Vor einer Woche wurde es gekauft. „Irgendwas ist da, der steht auch nicht richtig“, mutmaßt die Besitzerin, die das Fohlen je nach Diagnose dem Händler zurückgeben will. Für diesen Fall ist Lars Weber mit von der Partie. Auf einem Röntgenbild erkennen die beiden, dass das Fohlen eine angehende OCD im Kniescheibengelenk aufweist.  „Die Anforderungen und Möglichkeiten in der Medizin sind gewachsen“, meint Bäumer. Heutzutage werden mehr Krankheiten erkannt, vieles kann behandelt werden. Das geht so weit, dass Hunde neue Hüften bekommen. Auch in der Reiterei seien die Ansprüche gestiegen. „Die Pferde sollen heute viel Leistung zeigen“, weiß er.

Der nächste Ruf führt Bäumer nach Ohlenstedt. Eine Hannoveranerstute steht auf drei Beinen und zittert am ganzen Körper, obwohl der Kollege am Morgen ein Schmerzmittel gespritzt hatte. „Sie zeigt die Kusshand“, analysiert der Veterinärmediziner. Der Huf sei abgeknickt, das Bein angezogen. Er tippt auf eine Neuritis und nimmt an, dass die Stute einen Tritt auf der Koppel abbekommen hat. Dabei muss der Nervus radialis (verantwortlich für Ellbogen-Handgelenkbewegungen) getroffen worden sein. Die Stute bekommt eine Infusion. Am nächsten Tag wird es ihr wieder besser gehen. Wie so oft wird Bäumer angesprochen, ob er noch nach einem weiteren Pferd schauen könnte. Ein Westernpferd müsste die Zähne geraspelt bekommen. Der Tierarzt schaut ins Maul und löst dabei gleich einen Milchzahn. Das Raspeln verschiebt er aber auf einen anderen Tag.

Auf der Rückfahrt in die Praxis erreicht den Tierarzt, der nun schon seit zehn Stunden im Einsatz ist, ein Notruf. Ein Pony in Lunestedt atmet komisch und hustet. Bäumer diagnostiziert eine Schlundverstopfung. Das Pony hatte ein Stück Möhre nicht richtig gekaut; es blieb im Hals stecken. Der Arzt kann den Übeltäter mit einer Sonde in Richtung Magen schieben. Ohne ihn wäre das Pony erstickt.

Der Tag ist noch nicht zu Ende. In der Praxis müssen noch Berichte geschrieben werden. Erst nach dem Papierkram ist für Bäumer Feierabend – wenn nicht noch ein Notruf eingeht.

Erschienen in der Nordsee-Zeitung am 13.10.2008