Berichte

Achtung, festhalten: Mit „Christian“ über die Wellen hüpfen



Wenn es stürmt und alle Boote den sicheren Hafen ansteuern, läuft die „Hermann Rudolf Meyer“ meist erst aus. Selbst bei einem Orkan verlassen die Seenotretter der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) mit ihrem Kreuzer den Liegeplatz in Bremerhaven, um Schiffen, Seglern oder Menschen zu helfen, die auf Wasser in Not geraten sind.
Ingrid Zöllner (Text und Fotos)




Wie das Boot einer Wildwasserbahn im Vergnügungspark rutscht das Tochterboot „Christian“ vom Seenotkreuzer „Hermann Rudolf Meyer“ rücklings herunter. „Achtung, festhalten“, sagt der leitende Maschinist Stev Klöckner. Die „Christian“ landet innerhalb von zwei Sekunden sanft in der Weser. Das Tochterboot schaukelt in den Wellen leicht hin und her. Jetzt kann Nautiker Dirk Wilke Gas geben. Der Motor heult auf. Der 47-Jährige steht breitbeinig im speziellen Sicherungsring auf der Außenbrücke und lenkt die „Christian“ per Steuerrad. Klöckner überwacht im Steuerstand im Inneren die technischen Geräte. Dort ist es eng. Per Handzeichen verständigen sich die beiden Seenotretter; bei den lauten Wind- und dem Motorengeräuschen ist dies kaum anders möglich.

Neun Mann gehören zur ständigen Besatzung des Seenotkreuzers „Hermann Rudolf Meyer“, die in Bremerhaven stationiert ist. Vier sind immer an Bord, zwei Techniker und zwei Nautiker. Da die „Hermann Rudolf Meyer“ über ein Tochterboot verfügt, bleiben bei einem Einsatz ein Techniker und ein Nautiker an Bord des Seenotkreuzers, während die anderen das Tochterboot steuern. Zwei Wochen lang 24 Stunden am Stück Dienst muss jeder der acht Seenotretter leisten, bevor er wieder zwei Wochen Auszeit hat. „Wir sind eine gut funktionierende Männer-WG“, sagt Vormann Ulrich Fader. Die anderen stimmen ihm zu. 14 Tage lang wohnen alle vier an Bord. Da muss die Chemie stimmen. Besonders stolz sind die Männer auf ihre Kochkünste. Fünf Messingsterne prangen über der Kombüse. „Weil wir so gut kochen können“, meint Wilke und lacht. „Manchmal kommt es vor, dass wir es uns gerade beim Essen gemütlich machen und dann der Notruf eintrifft“, erzählt Klöckner. Dann wird alles schnell wieder weggeräumt, um zum Einsatz zu fahren.

Regelmäßig testen die Seenotretter ihr Schiff, im Ernstfall muss alles funktionieren. „Der Kreuzer ist vollgestopft mit modernster Technik. Gekostet hat er acht Millionen Mark. Alle Geräte sind Hilfsmittel, aber die sicherste Information ist das Auge“, erzählt Fader mit leicht schwäbischem Akzent. Ihn hat es an die Küste verschlagen, „weil der Bodensee zu klein war“, erzählt er mit einem Augenzwinkern. Die Ausrüstung für die Seenotretter ist stets auf dem neuesten Stand. „Das muss sein, sonst können wir unsere Arbeit nicht machen.“

Der Rettungskreuzer nimmt wieder Fahrt auf; zwei Maschinen mit je 1350 PS treiben das Schiff an. Fader steht dort auf der Außenbrücke und steuert, während Horst Dancker die Technik und die Schiffe auf der Weser im Blick behält. Der einstige leitende Maschinist ist schon pensioniert, aber der 68-Jährige springt immer wieder als Ersatz ein: „Wenn man so lange zur See gefahren ist, lässt einen das Schiff nicht los.“

Salz auf den Lippen

Gischt spritzt in die „Christian“. Es schmeckt salzig auf den Lippen. Wilke lenkt das Tochterboot mehrfach durch die Heckwellen. Wer sich bei dem Manöver nicht festhält, holt sich schnell blaue Flecken oder läuft Gefahr, aus dem Boot zu fallen. Die „Christian“ hüpft über die Wellen hinweg. Auf dem Boden sammelt sich Wasser, das von einer Seite zur anderen schwappt. Die beiden Seenotretter haben die Weser fest im Blick. Sobald sich eine Segeljolle nähert, gibt Klöckner seinem Kollegen ein Handzeichen und deutet in die entsprechende Richtung. Die Segler winken, als das Boot an ihnen vorbeirauscht. Der Fahrtwind pfeift laut in den Ohren, zerzaust die Haare und bringt die Kleidung zum Flattern.

Jeder der Seemänner auf dem Rettungsboot trägt eine Schwimmweste und die rote Latzhose, die sie als Rettungsmänner auszeichnet. Frauen gibt es auf den hauptamtlichen Kreuzern bislang noch nicht. „Dazu müsste ja das Schiff auch umgebaut werden. Allein wegen der Duschen“, meint Dancker. Bei den Ehrenamtlichen dagegen ist die eine oder andere Frau durchaus vertreten.

Das Wetter ist an diesem Tag harmlos, ein paar Wolken verdunkeln den Himmel, das Wasser ist aber ruhig. „Wenn alle Schiffe den Hafen anlaufen, rücken wir aus, da fängt unsere Arbeit oft erst an. Und das bei jedem Wetter, auch bei einem Orkan“, stellt Fader klar. Dass sie von manchen Menschen als „Helden“ bezeichnet werden, hören sie nicht so gern. „Helden haben die Angewohnheit, dass sie hinterher tot sind. Wir haben ein Ziel auf der Fahne: Wenn wir mit vier Mann rausfahren, kommen wir mit mindestens fünf zurück. Das ist uns bisher immer gelungen“, betont der Vormann, der schon seit 26 Jahren als Seenotretter arbeitet. „Wir sind Spezialisten und versuchen, das bis zum Exzess auszuweiten.“ Monatlich legen sie bis zu 400 Seemeilen zurück. Das Gebiet für die „Hermann Rudolf Meyer“ umfasst die Weser von Brake bis zur Wesermündung hinter dem Leuchtturm Roter Sand und bis südlich von Neuwerk.

Heuler Paulchen gerettet

Mehr als 2000 Quadratkilometer Wasserfläche wird von den vier Männern überwacht. Erst in dieser Woche war eine Segeljolle vor Dorum in Not geraten und trieb auf die Küste zu. Die Arbeit der Seenotretter nimmt zu, wenn es die Freizeitsportler ab März aufs Wasser zieht. „In den Wintermonaten haben wir eher mit der Berufsschifffahrt zu tun“, wirft Wilke ein. Der dramatischste Fall war für Fader der mit Heuler Paulchen. „Der lag allein auf einer Sandbank in der prallen Sonne und heulte sich die Seele aus dem Leib“, erzählt der Vormann. Mit der „Christian“ fuhren sie heran, schnappten den Heuler und brachten ihn an Bord. „Da hat er die Flasche gekriegt und wurde von uns versorgt“, erinnert sich der 46-Jährige. Paulchen kam nach Norddeich. „Einen Fall gab es, der uns richtig im wahrsten Sinne des Wortes gestunken hat“, sagt Dancker. Im Jahr 1984 trieb ein toter Wal mitten in der Fahrrinne. „Da wir vor Ort waren, mussten wir das stinkende Tier in den Hafen schleppen. Die nächsten Tage hat es in Bremerhaven penetrant gerochen“, weiß Dancker noch heute ganz genau. Der Wal wurde mit zwei Kränen beim AWI aus dem Wasser gezogen, präpariert und hängt seitdem im Schiffahrtsmuseum. „Und wir hatten die Formalitäten am Hals.“

Nach rund zehn Minuten ist die Testfahrt mit dem Boot beendet. Wilke steuert die „Christian“ ans Heck der fahrenden „Hermann Rudolf Meyer“ heran. Der 47-Jährige muss jetzt genau zielen, um die schmale Spur mit dem Bug – dem so genannten Steven – zu erwischen. Beim ersten Anlauf klappt es nicht, das Boot rutscht zurück. Dann gibt Wilke Gas, damit die „Christian“ den Winkel durch das schmale Nadelöhr schafft. „Bei richtigem Seegang ist das alles noch eine Spur schwieriger“, meint Klöckner. Ein Schlepper krallt das Boot und zieht es an Bord: Testfahrt erfolgreich abgeschlossen.



Erschienen in der Nordsee-Zeitung am 24.07.10